Ältere Damen reagieren etwas heikel, wenn man sie nach ihrem Alter fragt. Europa ist an diesem Wochenende 60 geworden. Die Union der 28 Staaten vom Alten Kontinent kokettiert ebenfalls etwas verschämt. Die Chefs der Länder trafen sich am Wochenende in Rom, dem Ort, an dem im Jahre 1957 alles begann. Damals unterzeichneten eine junge Bundesrepublik, ein stolzes Frankreich (Vive la France), ein zart aufblühendes Italien (Faschismus unter Mossolini 1922-44) und schließlich die Benelux-Staaten (Belgien, Niederlande und Luxemburg, von den Deutschen im WK II besetzt) die Römischen Verräge; ein Abkommen zum Aufbau einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. (Europa aus dem Blickwinkel des Europäers Hajo Guhl)
Es sollte endgültig Schluss sein, mit diesen mörderischen Kriegen unter Nachbarn. So die Idee. Die Politik setzte auf Wiederaufbau, Reformen und Wohlstand. Und auf ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Wer sich Filme und Reportagen aus dieser Zeit anschaut, glaubt an eine fremde Welt. Für den Blick des Jahres 2017 ist sie es auch.
Deutschland Ost und West hatten noch heftig mit den Trümmern in den Köpfen und im Lande zu kämpfen. Die Regierenden der DDR in Berlin unter Walter Ulbricht holten sich ihre Direktiven in Karlshorst ab. Die „Bonner Ultras“ (DDR-Jargon) mit Konrad Adenauer versicherten sich fast jede Woche in Washington der Freundschaft durch die USA.
Zwei Lager: Deutschlands Wege trennen sich (vorübergehend)
Die Bundesrepublik erlebte ihre erste Fresswelle, setzte auf soziale Marktwirtschaft, schaute am liebsten Heimatfilme und exportierte vor allem Käfer (VW). Der kostete knapp 5000 Mark. Der US-Dollar war für vier Mark (West) zu haben. Kein Wunder, dass die Amis den wundersamen deutschen Beetle am liebsten als Zweitwagen oder Studenten-Kutsche fuhren. Übrigens: Deutschland (West) war das Billiglohn-Land der Fünfziger und Sechziger Jahre!
Der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden (Auferstanden aus Ruinen, noch zum Mitsingen) wandte sich den lichten Höhen des Sozialismus zu und schlidderte von einem Versorgungsengpass in den nächsten. Während in den Gemüseläden in Berlin West die ersten exotischen Früchte auftauchten, gab es beim Kollegen im Prenzlauer Berg in der Auslage: Kartoffeln, Rotkohl und Selters.
Berliner Gören schauten sich das regelmäßig an. Die Pfiffigsten unter ihnen fuhren für zwei Groschen den ganzen Tag auf dem S-Bahn-Ring (den gab es bis 1961). Erwischen lassen durfte man sich nicht. Und mit weißem Hemd und blauem Halstuch hatten die Bengel auch keine guten Karten.
Gut und Böse im Kalten Krieg
International gesehen wusste jeder, wer gut und wer böse war. Es herrschte Kalter Krieg und es gab nur Schwarz und Rot. USA und UdSSR testeten ihre Atom- und Wasserstoffbomben und rüsteten um die Wette. Frankreich und Groß Britannien, das zerfallene Empire Ballerten ebenfalls Plutonium in die atmosphäre. Die Deutschlands rüsteten mit. Die Nationale Volksarmee stand mit den sozialistischen Brüdern bereit zu Verteidigung der Arbeiterklasse Deren Uniform hatte die Farbe der Wehrmacht, Stahlhelm und Schnitt vom großen Bruder Sowjetunion. Die Bundeswehr hatte neue Farben, den Blechtopf von den Amis und den Schnitt von der Wehrmacht.
Und nun Mittenmang nun die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Der Traum von den Vereinigten Staaten Europas war schnell vorbei. Der Franzose Charles de Gaulle sprach vom Europa der Vaterländer. Was er damit meinte: Er wollte nicht den Einheitsbrei der USA mit ihrem „Melting Pot“. Dass er damit auch die Vorherrschaft der Franzosen in Europa untermauerte, war ohnehin klar. Aber keinesfalls die Nationalstaaterei aus der heutigen rechten Ecke.
Großes Meckern über das Establishment
Heute vergeht kein Tag, ohne dass an diesem Europa herum gemault wird: Die Bürokratie in Brüssel erdrücke alles. Die EU sei nur für die Konzerne da. Alles unter dem Tenor: Wir kleinen Bürger haben nichts davon! (Die US-Amis, die Trump gewählt haben meckern übrigens ähnlich. Das Motto: Das eitle und ferne Washington mit seinem üblen Establishment gehört mal aufgeräumt!)
Dabei fahren wir in Europa lustig nach Griechenland in den Urlaub. Oder Spanien. Zahlen mit Euro. Umständliche Pass- und Zollkontrollen, Fehlanzeige. Wir maulen, wenn es im Winter keinen Spargel gibt. Oder Erdbeeren. Wir kaufen französischen Brie, irische Butter u.s.w.
Die Supermärkte und Discounter sind voll mit Waren aus Europa. Wir haben freien Handel und damit eine Grundlage für unseren Wohlstand. Wer das nicht glaubt muss sich nur an die Autobahn von Frankfurt/Oder nach Berlin stellen. Da rollen LKW aus ganz Osteuropa in Kolonne. Was funktioniert hier an Europa also nicht?
Die Mark profitierte in den letzten 25 Jahren
Brandenburg hat seit seiner Gründung im Jahre 1990 etliche Millionen Euro an Fördergeldern aus dem europäischen Brüssel erhalten. Zum Aufbau des Landes! Zu sehen an den kleinen Schildern mit der blauen EU-Fahne am Rande von Straßen und Gebäuden.
Die Idee ist lebendiger denn je
Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es in Europa keine Hungersnot! Das ist eine Leistung der Europäischen Gemeinschaft. Das Prinzip: Der Steuerzahler unterstützt die heimischen Bauern, damit wir unabhängig von den Weltmärkten sind. Das ist auf den ersten Blick teuer, aber schützt uns vor unangenehmen Überraschungen. Mit Lebensmitteln wird an den internationalen Börsen übel spekuliert. Hungersnöte und Aufstände einkalkuliert!
Probleme gibt es immer
Europa ist keine perfekte Gemeinschaft. Sie ist weder wohl durchdacht noch kann der Bund der Staaten sozialen Ungerechtigkeiten wirksam beseitigen. Selbst in der Bundesrepublik klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Es hilft allerdings wenig, beispielsweise pauschal dem Kapitalismus die Schuld zu zu schieben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Analyse stimmt. Bei der Überwindung der Probleme haperts, zum Teil auch wegen nationalen Egoismen.
Nun ist sie sechzig Jahre, die alte Dame Europa. Für einen Staat ist das Gebilde Europa allerdings recht jung und potent. Fast eine halbe Milliarde Menschen leben in der EU, im größen Wirtschaftsraum der Welt. Ein ökonomischer Riese mit der politischen Power eines Zwerges. Das Bild der Alten Dame passt: Sitzt im Kaffee, schwatzt über die Schlechtigkeit der Welt und ordert erschöpft einen Verlängerten (Tasse Kaffee in Wien) samt Sachertorte.
Gut sieht es zur Zeit nicht aus: Großbritannien will die Union wieder verlassen und einige (neue) Länder benehmen sich, als ob sie gerade in die Pubertät kämen. Das einst "Große Frankreich" hat wie andere Mitgliedsländer mit heftigem rechten Ausschlag zu kämpfen.
Die wiedervereinigte Bundesrepublik ist Wirtschaftszentrum der Europäischen Union und wird wohl bei deren Verfall am ehesten unter dem Rückfall in die Kleinstaaterei zu kämpfen haben. Wir sollten uns also hüten, ebenfalls in die Schmollecke zu marschieren.
Die Sozialdemokraten haben mit Martin Schulz einen erfahrenen Europäer auf ihr Schild gehoben. Mit Frank-Walter Steinmeier ist ein erfahrener Außenpolitiker und ebenfalls bekennender Europäer erster Repräsentant einer Bundesrepublik, die sich erst 1990 neu erschaffen hat. Gut für Europa!